Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat
Tagung
Kirche und Staat im 19. Jahrhundert



Torgau/Elbe, 14. und 15. Oktober 2016,
Ort: Torgau, Schloß Hartenfels, Plenarsaal, Flügel D (Innenhof), 2. Etage




Zusammenfassung der Tagungsvorträge




Prof. Dr. Reiner Groß
Staat und Kirche in Sachsen vom Posener Frieden 1806 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts – ein Überblick

Das 19. Jahrhundert brachte für Sachsen wie kaum ein anderes Jahrhundert davor tiefgreifende Änderungen in Staat und Gesellschaft. Am Beginn des Jahrhunderts war es das albertinische Kurfürstentum Sachsen, das in der West-Ost-Ausdehnung von der Werra bis zu Bober und Queis und in der Nord-Süd-Ausdehnung vom Harz und Fläming bis zum Thüringer Wald und dem Erzgebirgskamm mit einer Gesamtfläche von 35.100 Quadratkilometern reichte. 1,95 Millionen Menschen lebten in diesem Territorialstaat, der nach Preußen, den österreichischen Erblanden und Bayern zu den größten Landesstaaten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zählte. Am Ende des 19. Jahrhunderts lebten im Königreich Sachsen als eines Bundesstaates im Deutschen Kaiserreich auf einer Fläche von 14.990 Quadratkilometern knapp fünf Millionen Menschen.
Nach dem Ende des Alten Reiches 1806 musste sich Sachsen neu orientieren und verband sich mit Preußen. Das führte Sachsen an der Seite Preußens auf das Schlachtfeld von Jena gegen Napoleons Armee und endete mit der militärischen Niederlage Sachsens. Danach folgten seine Besetzung durch französische Truppen, der Posener Frieden vom 11. Dezember 1806 mit dem Beitritt zum Rheinbund und der Erklärung zum Königreich. Bis zum Ende der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813, an der Seite Napoleons bleibend, wurde danach Sachsen als Besiegter behandelt und bis Sommer 1815 von einem Gouvernementsrat unter preußischer Aufsicht verwaltet. Mit dem Frieden von Preßburg am 18. Mai 1815 erfolgte die Landesteilung, wobei zwei Drittel des sächsischen Territoriums und die knappe Hälfte der Bevölkerung an das Königreich Preußen und einige wenige kleine Gebiete in Ostthüringen an das Großherzogtum Sachsen-Weimar kamen. Nach dem Wiener Frieden 1815 wurde Sachsen Mitglied des Deutschen Bundes und versank als ein so genannter Mittelstaat in politischer Bedeutungslosigkeit.
Die revolutionären Unruhen von 1830 und 1831 führten zu grundlegenden Veränderungen in einer groß angelegten Staatsreform, die mit der Verfassung vom 4. September 1831 die konstitutionelle Monarchie und ein modernes bürgerliches Staatswesen brachte. Die gesellschaftlichen Verhältnisse wurden danach bis zur Jahrhundertmitte durch Industrielle Revolution, Vormärz, bürgerlich-demokratische Revolution 1848/1849 mit liberalem Märzministerium 1848 und Maiaufstand 1849 charakterisiert. Danach folgten knapp zwei Jahrzehnte, die als Ära Beust in die Geschichte eingegangen sind und in denen Sachsen versuchte, größeren Einfluss auf den Weg zu einem deutschen Nationalstaat zu nehmen. Nach der militärischen Niederlage in der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866, auf der Seite Österreichs und des Deutschen Bundes stehend, musste Sachsen dem Norddeutschen Bund beitreten und nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 weitgehend auf seine Souveränitätsrechte verzichten. Innenpolitisch wurden Gesetzgebung und Verwaltung den neuen Bedingungen angepasst. Dabei wurden die gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine sich kontinuierlich ausweitende Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung beeinflusst.
Von dieser Entwicklung wurde das Verhältnis zu Kirchen und Religionsgemeinschaften bestimmt. Auch nach der Landesteilung von 1815 blieb das verkleinerte Königreich Sachsen ein wichtiger Bestandteil der evangelisch-lutherischen Kirche in Deutschland. Das landesherrliche Kirchenregiment wurde nach 1831 neu geregelt. Für die lutherische Landeskirche wurden zahlreiche gesetzliche Regelungen, u.a. für kirchliche Feiertage, für innerkirchliche Organisationsfragen, die Gestaltung des Gottesdienstes und für gemischte Ehen getroffen. Für die nichtprotestantischen Christen in Sachsen erfolgte eine rechtliche Sicherung und staatliche Anerkennung ihrer Glaubensgemeinschaften. Neben der römisch-katholischen Kirche betraf dies die Reformierten, die griechisch-orthodoxe Kirche und die jüdischen Gemeinden. Erneuerung des protestantischen Glaubenslebens und evangelisch-lutherische Missionstätigkeit waren Teil des kirchlichen Wirkens. Aber auch Sektenbildungen gehörten zu den kirchlichen Verhältnissen in Sachsen.


Prof. Dr. Olaf Blaschke
Herrschaft und Konfession im 19. Jahrhundert

Der Katholizismus war im 1871 gegründeten kleindeutschen Kaiserreich eingeklemmt zwischen zwei Herrschaftsansprüchen: erstens dem “legitimen” Herrschaftsanspruch des Staates, der traditionelle und charismatische Herrschaftsansprüche des Papstes verdrängen wollte, und zweitens der Hegemonie des Protestantismus, wobei man hier je nach Ebene auch eher von Machtvorsprung sprechen könnte. Beide Aspekte werden behandelt, der Kulturkampf sowie die konfessionellen Konfliktlinien, und zwar in drei Schritten.
1. Der Begriff “Zeitalter der Kulturkämpfe” im weiten Sinne wird erläutert, der sich nicht nur auf den preußisch-deutschen Kulturkampf 1871 bis 1887 bezieht.
2. Was bedeutete der Konfessionalismus und dessen Politisierung im 19. Jahrhundert für Deutschland? Dabei wird gleichzeitig nach langfristigen Ursachen gesucht und ein Ursprung der konfessionellen Konflikte im Lutherjubiläum 1817 gesehen. Die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Konflikte führten auf katholischer Seite seit 1848/1852 zur Entwicklung einer politischen Partei, was Folgen bis 1933 zeitigte.
3. Schließlich wird der Blick über Deutschland hinaus auf Europa gelenkt. Von Spanien bis Schweden wirkte der Konfessionalismus, der sich ebenfalls politisierte, nicht aber immer in katholische oder gar protestantische Parteien mündete. Gerne wurde, nicht nur in Deutschland, das reformatorische Erbe bemüht, besser: instrumentalisiert, um die je eigene Position gegen den konfessionellen und politischen Gegner zu profilieren. Die europäische Parteienlandschaft und manche Herrschaftswechsel lassen sich nicht ohne dieses teils verheerende, teils segensreiche Erbe verstehen.


Prod. Dr. Athina Lexutt
Kernobst auf dem Markt der Möglichkeiten - Das Reformatorische in den Herausforderungen des langen 19. Jahrhunderts

Das lange 19. Jahrhundert bietet eine solche Vielfalt an Themen, Personen und Schauplätzen und stand selbst vor so großen Herausforderungen, dass der für das 16. Jahrhundert herausgeschälte Kern des Reformatorischen unter diesen Bedingungen so gut wie keine Chance hatte. Luther wurde zwar auf Denkmäler gehoben und zum Nationalhelden stilisiert – von seiner Theologie aber wussten selbst die Theologen nicht mehr allzu viel. Dass es ausgerechnet ein Ludwig Feuerbach ist, der zu den ganz wenigen gehört, die überhaupt Quellen von Luther gelesen haben, kann als symptomatisch angesehen werden. Erst mit der Herausgabe der Weimarer Lutherausgabe, beginnend mit dem Ende des Jahrhunderts, und der Entdeckung Karl Holls zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird sich da wieder etwas ändern. Im 19. Jahrhundert waren Luther und die Reformation also zwar durchaus gegenwärtig, aber die zeitgenössischen Ereignisse und ihre Herausforderungen waren so übermächtig, dass das Erinnern daran stets unter diesem Vorzeichen stattfand und dazu in Anspruch genommen wurde. Zudem und vor allem war die Aufklärung mit ihren Anfragen und ihrer Neustrukturierung der Weltdeutung inzwischen so sehr auch in der Theologie angekommen, dass sich ein neuer Religionsbegriff, wie ihn Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher etablierte, Raum griff und nur schwer mit den Erkenntnissen der Voraufklärung vereinbar schien. Durch Schleiermacher wurde etwas angestoßen, was vorsichtig die „Enttheologisierung“ des Religionsbegriffs genannt werden kann: Religion wurde mehr und mehr jenseits eines Offenbarungsdenkens im subjektiven Gefühl des Einzelnen verortet und zur Privatangelegenheit ohne jeden prinzipiellen und allgemeingültigen Deutungsanspruch degradiert. Die Wahrheitsfrage hatte sich so nicht mehr zu stellen. Theologie als Wissenschaft musste neu begründet werden und an den Universitäten um ihr Recht kämpfen, sie hatte ihre Vorrangstellung als Leitdisziplin eingebüßt und ihren öffentlichen Anspruch mehr oder weniger verloren. Ein voraufklärerischer Luther und eine ebensolche Theologie wurden in dieser Zerreißprobe eher als hinderlich empfunden, es galt neue Schultern zu finden, auf die man sich stellen konnte.
Dennoch wird der Vortrag den Blick auf vier Bereiche richten, in denen es sehr wohl um den „Kern“ des Reformatorischen ging. Diese Bereiche sind der Agendenstreit, der Kulturkampf, lutherisch orientierte Theologien wie die Konfessionelle Theologie und der Kulturprotestantismus sowie die Diakonie und Innere Mission. Die Beobachtungen in diesen Bereichen werden zum Schluss zu vergegenwärtigenden Überlegungen führen, welches Kernobst auf dem Markt der Möglichkeiten aus dem 19. Jahrhundert bis heute angeboten werden kann und sollte.


Prof. Dr. Matthias Asche
Toleranz und Intoleranz in deutschen Territorien und Städten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert – Versuch eines vergleichenden Überblicks

Nach den blutigen Erfahrungen von dreißig Jahren Krieg, von Verwüstung, Massenflucht und Entvölkerung war der Westfälische Frieden ein probates säkulares Rechtsinstrument, um verhärtete konfessionelle Frontstellung im Heiligen Römischen Reich auf Dauer aufzulösen – freilich ohne das Problem der theologischen Wahrheitsfrage letztgültig beantworten zu wollen, sondern eine Trikonfessionalität schuf. Auch und gerade in konfessionskultureller Hinsicht darf dieser Pazifikationsakt als eine Zäsur verstanden werden, zumal er nicht nur bis zum Ende des Alten Reiches als Reichfundamentalgesetz seine Gültigkeit behielt, sondern die in der Friedensakte formal geregelten konfessionellen Besitzstände und damit faktisch auch die lokalen konfessionellen Verhältnisse – sogar über die verfassungsgeschichtlichen Zäsuren des Reichsdeputationsschlusses und des Reichsendes sowie der Kriege gegen Frankreich und des daran anschließenden Wiener Kongresses – festschrieben. Weil im Westfälischen Frieden – anders als noch im Augsburger Religionsfrieden von 1555 – kein Reformationsrecht der Landesherrn (ius reformandi) mehr vorgesehen war, wurde die ‚konfessionelle Landkarte’ in Deutschland nach 1648 gewissermaßen ‚eingefroren’. Sie hatte im Großen und Ganzen Bestand bis zu den großen Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand, als durch die massive Zuwanderung die älteren konfessionellen Milieus allmählich aufgebrochen wurden.
In einem vergleichenden Überblick wird versucht aufzuzeigen, daß sich in vielen Reichsterritorien und Reichsstädten schon vor dem Ende des Alten Reiches (1806) – trotz weiterhin bestehender konfessioneller Systemkonkurrenz und Intoleranz – vor dem Hintergrund von Aufklärung, Nützlichkeitsdenken und Pragmatismus ganz unterschiedliche Formen konfessioneller Koexistenz und sogar regelrechter Toleranzphänomene entwickelt haben. Aufgrund der territorialen Vielgestaltigkeit des Alten Reiches – es gab ja vor dem Reichsdeputationshauptschluß und dem sogenannten ‚Rittersturm’ mehrere hundert, überwiegend reichsunmittelbare Klein- und Kleinstterritorien sowie einige Dutzend geistliche Fürstentümer und dazu noch 52 Reichsstädte – können freilich nur exemplarische Beobachtungen vorgestellt werden, die auch konfessionelle Migrationsphänomene berücksichtigen.


Dr. Josef Ulfkotte
Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) und die protestantische Religiosität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert

Zehn Jahre nach dem Ende des 1. Weltkrieges wurde Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852) auf Betreiben der „Deutschen Turnerschaft“ (DT) in die Walhalla, die Ruhmeshalle der „Großen Deutschen“ aufgenommen. Als Initiator und Impulsgeber der Turn- und Sportbewegung in Deutschland wählten ihn die deutschen Sportjournalisten 2013 in die virtuelle „Hall of Fame“ des deutschen Sports. Bekannt ist Jahn heute eigentlich nur noch als „Turnvater“. Die Zeitgenossen erlebten den Pfarrersohn aus Lanz in der Westprignitz aber auch als überzeugten Protestanten. Anlässlich der 300-Jahrfeier der Reformation im Oktober 1817 verliehen ihm die Universitäten Jena und Kiel die Ehrendoktorwürde, weil er – so das Doktordiplom der Universität Kiel – „wegen seines festen Sinnes, seiner edlen Sittenreinheit, reichen und gewaltigen Beredsamkeit mit keinem mehr, als mit Luther zu vergleichen ist.“ Viele seiner Briefe erinnern in ihrer Sprache an die Lutherbibel und lesen sich wie eine Predigt. In Luther sah Jahn nicht nur den religiösen Reformator, sondern zugleich den Erneuerer und Wiedererwecker des deutschen Volkstums. Er machte Luther gewissermaßen zum Kronzeugen seiner gleichnamigen, 1810 erschienenen Schrift „Deutsches Volkstum“, den er zeit seines Lebens als seinen Vorgänger angesehen und deshalb auch zum Lutherfest 1846 zusammen mit Schiller und Scharnhorst besungen hat. Ihm schwebte gar eine Nationalkirche unter Einschluss der Katholiken vor.
Seine zutiefst protestantische Gesinnung, die mit einer preußisch-deutschen Grundhaltung einherging, prägte auch seine1811 gegründete „Turngemeinde“ in Berlin, die 1819 als „Pflanzstätte der Revolution“ behördlich verboten wurde. Bei Turnfesten ließ Jahn Choräle singen und Gebete sprechen, bei den Turnfahrten gehörten abendliche Andachten zum Tagesprogramm, an den Sonntagen besuchten seine Turner regelmäßig die Kirche und hörten die Predigt Schleiermachers. Seine Turnjünger nahmen seine wortgewaltigen Ausführungen, die wie Predigten angelegt waren, begierig auf, betrachteten sie gar als „Goldsprüchlein aus Vater Jahns Munde“ und sahen in ihm gar einen Heiland.
Jahns Rolle als „Reformator“ – so sah er sich gern selbst und viele seiner Anhänger - endete mit seiner Verhaftung im Juni 1819. Als „gefährlicher Demagoge“ stellte ihn der preußische Staat kalt und ließ ihn auch nach dem Ende seiner sechsjährigen Haftzeit im Jahre 1825 bis 1840 durch die Polizei überwachen. Seiner öffentlichen Wirksamkeit beraubt führte Jahn in diesen Jahren ein „Briefleben“, das aber Aufschluss über seine Einstellung zu den religiösen Strömungen dieser Jahre gibt.
Entschieden trat Jahn dem Pietismus entgegen, einer von schwärmerischen, separatistischen, spiritualistischen und mystischen Nebenströmungen der Frühreformation beeinflussten Bewegung innerhalb des Protestantismus, die über eine Vertiefung der Frömmigkeit des Einzelchristen, allgemeines Priestertum und aktives Streben nach Selbstheiligung eine Erneuerung des kirchlichen und sittlichen Lebens anstrebte. In seinen Briefen bekämpfte er die führenden Vertreter dieser Richtung (Hengstenberg, Tholuck, Guerike). Übertritte von ehemals sehr geschätzten Personen zu den „Betheiligen“ waren für ihn der Grund für den Abbruch freundschaftlicher Beziehungen, häufig auch Anlass für hasserfüllte Kommentare (Harnisch, Leo, Göschel). Jahns eigener Weg zu Gott war der eines rationalistisch und liberal ausgerichteten Protestantismus, wie er in dem 1842 in Leipzig gegründeten Gustav-Adolf-Verein - Jahn war ein großer Verehrer des „Schwedenkönigs“ - und in der ebenfalls Anfang der vierziger Jahre von dem Magdeburger Pfarrer Leberecht Uhlich ins Leben gerufenen freireligiösen „Gesellschaft der Lichtfreunde“ gepflegt wurde. In den Auseinandersetzungen der liberalen, freireligiösen Bewegung der „Lichtfreunde“ mit der orthodoxen Landeskirche ergriff Jahn entschieden Partei für die ersteren. Von staatlicher Einflussnahme in Glaubensfragen hielt Jahn ebenso wenig wie von dogmatischer Theologie und fanatischem religiösen Missionseifer. Im Januar 1843 schrieb er: „Ich bin mit allen Buchgläubigen immer gut durchgekommen, mit Christen, Buddhisten, Talmudisten und Islamern; habe ich zwar nach dem Willen meines Vaters in Halle 2 Jahre 1796 bis 98 – die Gottesgelahrtheit tüchtig getrieben, so sage ich doch mit dem türkischen Mufti: ‚Gott weiß es besser.’ Ich lasse jeden sein Steckenpferd reiten, nur darf er mich nicht umreiten wollen und verlangen, daß ich mit aufsitze.“


Prof. Dr. Dr. Dieter Langewiesche
Luther und die Deutschen. Deutungen des 19. Jahrhunderts aus der Perspektive der Gegenwart

Was ist aus heutiger Sicht bedeutsam an der Reformation, an Luther? Diese Frage wurde immer wieder gestellt, und stets ging es um eine Selbstverortung. Die Reformation, Luther als der archimedische Punkt, von dem aus die eigene Zeit und der eigene Standort darin vermessen werden soll. In diesem Willen, uns in eine als wertvoll beurteilte Tradition zu stellen, unterscheiden wir uns nicht von dem, was wir an unseren Altvorderen beobachten.
Luther und die Deutschen im 19. Jahrhundert - oder: warum sah man damals in Luther die Verkörperung des Deutschen? Es wird aber nicht darum gehen, die auch damals sehr unterschiedlichen Vorstellungen, was deutsch sei, detailliert nachzuzeichnen, sondern gefragt wird nach den Wiederholungsstrukturen (Reinhart Koselleck). Denn nur so lässt sich bestimmen, was an unseren Geschichtsvorstellungen neu und was nur eine Wiederholung ist, obwohl wir meinen, anders als frühere Zeiten die Vergangenheit zu verstehen.
Was ist neu, was wiederholt alte Vorstellungen von „Luther und die Deutschen“ wird an zwei Texten zum Luther-Jahr 1883 erörtert. Von Fall zu Fall werden weitere Beobachtungen bis zum Grundlagentext der EKD von 2014 als zeitlichem Endpunkt einbezogen. Geprüft wird an diesen Texten: Was hat das 19. Jahrhundert als deutsch an Luther empfunden, und wie sehen wir das heute.


Prof. Dr. Mathias Schmoeckel
Schleiermacher und Savigny. Die individuelle Anschauung und die Hinwendung zur Geschichte.

Ziel meines Beitrags ist es, die Hinwendung zur Geschichte am Beginn des 19. Jahrhunderts zu verstehen, wie man sie besonders deutlich bei Friedrich Schleiermacher und Friedrich Carl von Savigny findet. Gerade in Abgrenzung zur Tradition, die zwar auf Melanchthon zurückgeht, für die Zeit um 1800 aber vor allem mit Immanuel Kant verbunden wurde, ging es darum, die Grundlegung der Möglichkeit der Erkenntnis zu begründen.
Der Freundeskreis um Schelling, Fichte, Schlegel, Hölderlin, Novalis und Schleiermacher u.a. betonten die Individualität der Anschauung, also der Sinneseindrücke, und hatte damit mehr Schwierigkeiten, die Möglichkeit eines objektiven Erkennens zu begründen. Ein Individuum in seine historischen Abschnitte zu zerlegen und durch die Betrachtung dieser Phasen der unterschiedlichen Ausprägung seiner Subjektivität doch wieder zu einem objektiven Verständnis dieser Person zu nähern, erschien besonders attraktiv. Nichts anderes machte Savigny, als er das Volk in seine Epochen zerlegen und durch das Studium der verschiedenen historischen Zeiten zum objektiven Recht eines Volkes zu gelangen hoffte. Nicht einmal der Theologe Schleiermacher stützte sich in diesen Bemühungen auf Schriften der Reformation.
Etwas anderes gilt für die politische Tätigkeit beider Autoren, die nicht zuletzt ab 1810 in dem Projekt des Aufbaus der Berliner Universität verbunden waren. Sollte Preußen einen historischen Wert haben und erhaltenswert sein, so musste es sich im Kampf gegen Napoleon bewähren. Volk und Staat mussten zusammenwirken, um den Nachweis für den historischen Wert Preußens zu erbringen. Die Sammlung der Kräfte, nicht zuletzt auch in Form einer unierten Kirche, aber auch das Zugehen auf die Katholiken und der Versuch einer Verringerung der Gegensätze zwischen Herrscher und Untertanen charakterisieren diese Phase der Restauration. Nun waren es jedoch nur Bekenntnisse zur Tradition, auch der des Christentums, während der Glaube verinnerlicht wurde und vom Bürger Duldsamkeit verlangt wurde.


Prof. Dr. Dr. Andreas Tacke
Der Kampf der Ziegel: Die Auswirkungen der Reformation auf den Berliner Kirchenbau um 1900

Das Verhältnis von römisch-katholischer Kirche zu ihrer Schwesterkirche wie zum Staat, vor allem ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit ›gespannt‹ zu umschreiben, wäre noch eine freundliche Formulierung – Stichwort: ›Kulturkampf‹. Denn ihr Vorwurf in Staat und Gesellschaft marginalisiert zu werden, war unüberhörbar, vor allen in den Diasporagemeinden.
An ›vorderster Front‹ in der auf allen Ebenen geführten Auseinandersetzung standen die römisch-katholischen Gemeinden in der Reichshauptstadt. Um 1900 gingen diese in Berlin dazu über, auch ihre zahlreichen Kirchenneubauten zur Selbstvergewisserung architekturikonographisch in Anspruch zu nehmen und u.a. mit dem verwendeten Baumaterial auf die reformatorische Zeit zu verweisen. In der katholischen Sakralarchitektur Berlins spiegelt sich ein Balanceakt zwischen gut katholisch – damit einer vornationalen Bindung und überstaatlichen Autorität, Kirche und Papst, zu folgen – und dennoch gut deutsch sein zu wollen wieder. So entstand zwischen den katholischen und evangelischen Berliner Kirchenneubauten des Historismus ein auch medial skandierter Dialog, der heute in Vergessenheit geraten ist.