Ina-Maria Pradella
Erinnerungen an die letzten Kriegstage im April 1945



Im Jahr 1945 war ich gerade mal 9 Jahre alt, ich lebte gemeinsam mit meiner Mutter, meinem Bruder und meinem Großvater in meinem Elternhaus in Lorenzkirch. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Krim in der Nähe von Sewastopol gefallen. Ich erinnere mich gut, dass ständig angloamerikanische Bomber im Tiefflug über uns hinweggeflogen. Es machte uns Angst. Täglich kamen neue Flüchtlingstrecks mit Pferdefuhrwerken an uns vorbei gefahren. An einem dieser Tage wurde auf einem Pferdewagen ein Kind geboren.
Meine Mutter bereitete für die junge Mutter ein Essen und half bei der Versorgung des Neugeborenen. Beide überlebten und konnten weiterziehen. Die Flüchtlinge waren auf dem Weg in Richtung Westen, um vor den nahenden Kämpfen des Krieges zu fliehen. Sie nutzten dafür die Gierseilfähre über die Elbe und die im Februar 1945 in Betrieb genommene Pontonbrücke.
Am Donnerstag, den 19.04.1945 und am Freitag, den 20.04.1945 trieb die deutsche Wehrmacht Frauen aus einem KZ in Richtung Westen. Ein schlimmer Anblick.
Am 20. April 1945 wurde ganz in der Nähe die Munitionsfabrik Zeithain bombardiert. Eine riesige Explosion war zu hören und erschütterte die umliegenden Dörfer. Am Sonnabend, den 21. April 1945 kam mein Bruder voller Aufregung nach Hause und berichtete, dass er unweit des Dorfes erste berittene sowjetische Soldaten hinter dem Elbdamm sah, er zählte 9 Soldaten.
Am Abend des 22. April 1945 wurde durch die deutsche Wehrmacht die Zufahrtsstraße nach Lorenzkirch gesprengt. Zwei Häuser wurden dabei komplett zerstört und viele Dächer abgedeckt. Anfangs kamen die Flüchtlinge aus östlichen Gebieten und in den letzten Kriegstagen aus der näheren Umgebung. Auch Kriegsgefangene wurden von der deutschen Wehrmacht in Richtung Westen getrieben. Es war grauenvoll, was in den letzten Kriegstagen in Lorenzkirch geschah. Mein Großvater hatte bereits im Keller des Hauses eine Schlafstelle für uns errichtet. Hier verbrachten wir die Nacht in Angst und Sorge. Auch an diesem Abend war die Pontonbrücke über die Elbe stark überlastet. Wegen der Bombenangriffe aus der Luft war die Überquerung der Brücke in diesen Tagen fast nur nachts möglich. Endlose Flüchtlingstrecks, Wehrmachtsfahrzeuge standen hier tagelang - wartend auf die Überfahrt bzw. Überquerung der Elbe.
Am Abend des 22. April 1945 - die Brücke war voller Menschen - wurde sie durch ein Sprengkommando der Wehrmacht in die Luft gesprengt. Wie viele Menschen dabei ums Leben kamen - ich kann es nicht sagen. Später am Abend des 22. April 1945 erreichte dann die Rote Armee unter großem Jubel die Elbe. Ich erinnere mich noch sehr genau an ihre lautstarken Freudenschreie.
Am 23. April 1945 vormittags erhielten wir von der russischen Armee den Befehl, uns hinter die Front zurückzuziehen. Wir verließen das Dorf mit unserem Handwagen, auf den wir unsere Habseligkeiten geladen hatten in Richtung Jacobsthal. Wir wurden auf einen Bauernhof getrieben, hier durchsuchte man zunächst unsere Wagen. Dann durften wir weiter hinter den Ort in Richtung des Waldes ziehen. Hier baute man Hütten und Zelte zum Unterschlupf auf. Wir verbrachten die nächsten 3 Nächte im Wald, glücklicherweise war es nicht zu kalt. Ein kleiner Trupp der Dorfbewohner erkundete am Mittwoch zu Fuß die Lage und überbrachte uns die freudige Nachricht, dass wir wieder in unsere Häuser zurückkehren können. Daraufhin liefen wir am Donnerstag in unser Dorf zurück. An diesem Tag sahen wir auf der Elbe ein Brückenteil treiben, auf dem sich ein Kinderwagen befand. Alle hatten Angst - keiner traute sich einzugreifen. Ein Bild, daß ich in meinem Leben nie vergessen kann.
Wir sahen jetzt auch die unglaublich vielen Menschen und Tiere in unserem kleinen Ort und auf der Elbwiese, die während der Kampfhandlungen zu Tode kamen. An den Folgetagen wurden sie auf den Wiesen im Dorf, in von der Wehrmacht geschachteten Erdlöchern vergraben. Hier fanden so viele ihre letzte Ruhestätte. Auf dem Friedhof in Lorenzkirch wurde noch in derselben Woche ein Massengrab errichtet, hier fanden 51 Menschen ihre letzte Ruhestätte, darunter 7 russische Soldaten, 1 Franzose, 1 Italiener und 5 ukrainische Frauen. Seit 35 Jahren pflege ich dieses Grab in Gedenken an all meine Familienangehörigen, die während des Krieges in der Fremde ihr Leben lassen mussten. Der Anblick der Gefallenen begleitet mich ein Leben lang. Oft haben wir im Ort über die Sinnlosigkeit eines Krieges gesprochen. Nie wieder möchten wir Lorenzkircher so etwas Schreckliches erleben müssen. Nie wieder.
Am 25. April 1945 fand in Lorenzkirch an der Elbe die 1. Begegnung zwischen russischen und amerikanischen Kriegsteilnehmern statt. Wir Lorenzkircher haben in der Nähe der ersten Begegnungsstelle eine Gedenktafel errichtet und legen bis heute hier Blumen im Gedenken an alle Kriegsopfer nieder. Sie soll die Erinnerung wahren und Mahnung sein.

gez. Ina-Maria Pradella, geb. Otto

Diesen Text stellte Frau Ina-Maria Pradella anlässlich des 75. Jahrestages der Elbe Begegnung bei Torgau dem Förderverein Europa Begegnungen e.V. zur Verfügung. Interessenten können mit uns in Kontakt treten.